(Foto © Clemens Ratschan) An Reiseberichten zu Lappland mangelt es nicht. Vertraut sind die Aufnahmen: mit dem Heli in der Wildnis abgesetzt, Zelt am Flussufer aufgeschlagen, Mückennetze vorm Gesicht, große Äschen in der Hand. Es sind diese Bilder, die bislang meine Eindrücke aus diesem beeindruckenden Landstrich bildeten. Wie lebensnah anders eine Reise nach Lappland beschrieben werden kann, zeigt die folgende Geschichte. Es ist ein Auszug aus dem Anfang Mai im Forelle & Äsche Verlag erscheinenden Buch Der Forellensammler von Tom Jacob. Was es dabei mit dem Fang der berüchtigten Polarkreis-Äschen auf sich hat – Achtung Spoiler Alert – wird den ein oder anderen Reisebericht aus der Region in neuem Licht erscheinen lassen.
Im schrägsten Land der Welt – Tom Jacob
Ein zutiefst beeindruckender Mann ‒ einer der wenigen echten Gentlemen, die ich in meinem Leben getroffen habe ‒ nahm mich mit nach Nordlappland zum Äschenfischen. Im Grunde genommen ist all das, was jetzt folgt, ja selbst das, was ich selbst darin erlebt habe, seine Geschichte.
Begegnet bin ich ihm das erste Mal in Paris auf einem Wurfwettbewerb des International Fario Club im Bois de Boulogne, diesem wunderbaren Park im Westen von Paris, wo man sich mittags zum Picknick trifft und abends die Prostituierten patrouillieren. Er lud mich ein mitzukommen in sein persönliches Paradies im Grenzgebiet zwischen Finnland, Schweden und Norwegen. Martin, so wollen wir ihn hier nennen, war Langstreckenläufer; ein recht guter sogar, denn er vertrat Frankreich bei den olympischen Spielen 1964, obwohl er Schwede von Geburt war. Bei den Spielen von Tokio lernte er einen rauchenden und trinkenden Schwerathleten aus Finnland kennen, einen Gewichtheber. Die beiden wurde sehr, sehr gute Freunde, was nicht zuletzt daran lag, dass beide das Fliegenfischen liebten.
Ende der 60er-Jahre hatte ihn sein Olympia-Freund eingeladen, dessen skandinavische Heimat zu besuchen, um gemeinsam im Grenzfluß Könkämäeno auf große Äschen zu fischen. Denn sie, die Äschen, waren die eigentliche große Leidenschaft, auf die ihre tiefe Freundschaft fußte. Aus dieser ersten Reise wurde ein lebenslanges Band, das sogar den Tod überdauert hat, denn sein finnischer Freund lebt schon lange nicht mehr; der Lungenkrebs hatte ihn vor Zeiten geholt, aber Martin fuhr auch weiterhin jedes Jahr an den Fluß, der ihn längst selbst gefangen hatte. Nicht nur, weil die Äschen ihn nie wieder losgelassen haben, er war so auch seinem Freund nahe.
Als Martin Mitte der 1960er-Jahre das erste Mal mit dem Bus in Saarikoski ankam, stand er allein auf weiter Flur, denn sein Freund war nicht aufgetaucht, um ihn persönlich in Empfang zu nehmen ‒ was nichts wirklich Ungewöhnliches ist in diesem Teil der Welt. So packte Martin seinen Rucksack und seine Angelruten und lief los.
Die ersten beiden Menschen, die ihm unterwegs begegneten, waren zwei etwas heruntergekommen wirkende Brüder mit irrem Blick und langen Messern am Gürtel. Eine sprachliche Kommunikation war nicht möglich, da sie alle drei keine Sprache kannten, die beide Seiten verstanden. Die wilden Brüder bedeuteten Martin jedoch, ihnen seinen Rucksack auszuhändigen und mit Blick auf ihr Äußeres willigte er ziemlich schnell ein; Martin war beileibe kein Feigling, aber er war noch viel weniger ein Dummkopf. Die beiden drehten seinen Rucksack um, leerten den Inhalt auf dem Boden aus, auf der Suche nach etwas ganz Speziellem. Auf Geld waren sie nicht aus, doch als sie die Flasche mit Martins Aftershave fanden, war die Sache geritzt. Sie balgten sich kurz um deren Inhalt, leerten das Fläschchen innerhalb kürzester Zeit gemeinsam – sie tranken es aus! – und gaben Martin seine Habseligkeiten zurück. Zusammen traten sie dann den Weg zum Haus seines Freundes an, der ein Nachbar von den beiden war. Wie alle in der Gegend Nachbarn sind; irgendwie. Später wurden die drei übrigens ganz gute Freunde, auch, wenn man die beiden immer ein bisschen im Auge behalten musste, wie Martin mir versicherte.
Als Martin sich vor Jahren im Hinterland beim Fischen einmal verlaufen hatte, verlor er, als er neben einem großen Findling ein Feuer machte, sein Messer. Ein Nachbar aus der Gegend, der während eines Sturmes bei der Jagd an just derselben Stelle Jahre später Schutz suchte, fand es und gab es seinem Besitzer zurück.
Solche Dinge passieren in Finnland; es ist ein seltsames Land, das man sehr lange kennen muss, um es nicht mehr seltsam zu finden.
Man muss sich vermutlich nur daran gewöhnen.
Oder das Land muss sich an den Menschen gewöhnen.
Ganz klar geworden ist mir das nicht, aber ich war auch einfach nicht lange genug dort.
Cut.
Ich saß am Bahnhof in Strasbourg und wartete auf meine Verbindung nach Paris. Ich beobachte einen Polizisten, der mit einem langhaarigen Schäferhund auf meinem Bahnsteig Streife lief. Der Polizeibeamte war zwar recht martialisch aufgemacht mit allerlei Ausrüstung an seinen breiten, schwarzen Gürtel, doch dieser reichte mit Müh‘ und Not gerade so um ihn herum, denn er hat eine respektable Plauze. Sein Hund sah nicht wirklich besser aus, er war ebenfalls ziemlich übergewichtig und machte einen extrem entspannten Eindruck für einen „scharfen“ Schutzhund. Die beiden sahen aus, als seien sie vom sonntäglichen Frühschoppen geradewegs auf dem Weg nach Hause zum Mittagessen.
Auf keinem anderen Bahnhof der Welt wäre ein solches Bild nach 9/11 denkbar gewesen.
Geliebtes Elsass!
Eineinhalb Tage später saß ich im Nachtzug von Helsinki in Richtung Norden. Der Kulturschock hätte nicht größer sein können. Es ist für meinen Geschmack die beste Art überhaupt zu reisen. Abends ins Bett und am nächsten Morgen fast 1000 Kilometer später ausgeschlafen am Ziel aufwachen. Die Betten waren lang (die Finnen sind lang) und gut, die Waschbecken in den so einfachen wie schönen Doppelkabinen aus postmodernem, orangefarbenem Plastik. Man traf sich vor dem Schlafengehen im Restaurantwagen, dessen Tische nicht klebten wie in den deutschen Restaurantwagen, auf ein Bier und alle (wirklich alle!) redeten übers Fischen.
Der Zug erschien mir wie ein Truppentransporter mit Infanterie auf dem Weg zur Front. Doch lag in jedem Abteil statt eines Sturmgewehrs ein Rutenrohr.
Aber auch eine erkleckliche Anzahl an Passagieren aus der ehemaligen Sowjetunion war mit an Bord, die sich durch einen eigenen Dresscode von allen anderen deutlich unterschied: die meist unrasierten Herren trugen Lederschuhe (viele ohne Schnürsenkel) zur Jogginghose und dem weißen, ärmellosen Unterhemd in Feinripp, das im gesamten anglo-amerikanischen Sprachraum unter dem Namen Wife-beater (etwa: „Gewalttätiger Ehemann“) firmiert.
Am nächsten Morgen fuhr ich nach meiner Ankunft am Zielbahnhof stundenlang mit dem Bus durch die Tundra weiter nach Norden, vorbei an Fichten, Kiefern, Birken, Felsen, Flechten Moos, Flüssen und Seen und – sonst nichts. Die einzigen Spuren, die auf menschliche Zivilisation hindeuteten, waren die Strom- oder Telefonleitungen, die sporadisch am Straßenrad vorbeiliefen. Der Bus bremste immer wieder ab, teilweise bis fast zum Stillstand. Der Grund waren die Unmengen an Rentieren, die völlig selbstverständlich die Straßen mitbenutzen, mit den allgemein anerkannten Verkehrsregeln aber nur in den seltensten Fällen vertraut waren. Insgeheim hatte ich mir gewünscht, ein paar Rentiere zu sehen, aber als sie das achte oder vierzehnte Mal die Straße blockierten, fingen sie dann doch an zu nerven. Als ich nachmittags mein Ziel erreichte, war ich nur noch 200 Kilometer von Murmansk im Osten entfernt, während Helsinki mittlerweile fünfmal weiter südlich lag.
Mein Domizil für die kommenden Wochen war ein kleines, rotes Haus mit weißen Fensterläden. So wie alle Häuser in Saarikoski – insgesamt vier; in Zahlen: 4 – kleine, rostrote Häuer mit weißen Fensterläden waren, sogar die einzelnstehenden Klohäuschen folgen diesem Farbschema. Apropos: in diesen findet man dort oben im Norden ausnahmslos Klobrillen aus Styropor. Aber nicht, dass man keinen kalten „Mh-mh-mh“ bekommt, sondern dass man im Winter nicht festfriert. Das Haus wurde über die Jahre immer wieder erweitert, war aber noch immer klein. Direkt davor führte eine Straße vorbei. Sie war die einzige Verbindung in den Nordwesten der Region und wurde erst vor wenigen Jahren geteert. Folgt man ihr nach Norden, dann erreicht man nach ungefähr 50 Kilometern die norwegische Grenze.
Unser direkter Nachbar war ein alter Lappe, der viel älter aussah als er tatsächlich war. Er hatte vier Kinder und keinen Zahn mehr im Mund; zumindest keinen sichtbaren. Er war im Hauptberuf Rentierbesitzer und -züchter und seine Herde umfasste mehrere tausend Köpfe. Im kurzen Sommer vertickte er aus seiner Blechgarage heraus gegerbte Rentierfelle, Kuksas (das sind handgeschnitzte Tassen aus Birkenholz) und traditionelle samische Kleidung aus Rentierleder, die seine ebenfalls zahnlose Frau herstellte.
Alle Männer dort oben trugen zwei Messer, ein großes, klassisches Finnenmesser mit Lederscheide, das, wie der bunte, gewebte Gürtel, ein Teil der traditionellen samischen Nationaltracht ist, sowie ein kleineres sauscharfes Arbeitsmesser aus schwedischem Dreilagenstahl, das in einer Kunststoffscheide steckt und für so ziemlich alles verwendet wird, was kommt. Ich vermute aufgrund der Klingenform und Größe, dass die langen Messer ausschließlich zum Schlachten der Rentiere verwendet werden, habe aber nie danach gefragt.
Bisher habe ich immer versucht, in jedem Land, in dem ich zu Besuch war, zumindest einige Brocken der Landessprache zu lernen. Aus Respekt vor seinen Bewohnern und Neugier für, und Freude an der jeweiligen Sprache. Bisher hatte das auch immer ganz gut geklappt. Sogar auf Hokkaido in Japan „unterhielt“ ich mich mit einem Guide darüber, wie der Kirschlachs die Fliege nimmt. Auf Japanisch, mit Händen und Füssen und einem Bleistift. In Finnland hingegen erlebte ich diesbezüglich zum ersten Mal glatt Schiffbruch. Ich kaufte mir zwar, wie jedes Mal vor einer Reise, einen dieser kleinen modernen Sprachführer, in dem nicht nur die reine Grammatik, sondern auch die wichtigsten Phrasen – also quasi die Eckpunkte der jeweiligen Kultur ‒ aufgeführt waren; also „Wo geht es zum Bahnhof, bitte?“ oder „Kann ich in diesem Café Cannabis kaufen?“ oder „Was kostet ein Hot Dog?“ … so Dinge halt. In der finnischen Ausgabe kam ich überhaupt nicht so weit, den schon ganz am Anfang wurden die 15 (!) Fälle der Finnischen Grammatik vorgestellt.
Zum Vergleich: das Deutsche hat bekanntermaßen vier, Latein sechs Fälle.
Es war schlicht aussichtslos.
So stellte mich schon ein simples „Guten Morgen“ auf eine schwere Probe (Hyvää päivä oder Hyvää huomenta). Die Abfolge der Buchstaben hintereinander in einem einzelnen Wort ist mitunter sehr gewöhnungsbedürftig, da sowohl Vokale wie Konsonanten mehrfach hintereinander vorkommen können. Kruunukorkki bedeutet „Kronkorken“. Mein Finnisch beschränkte sich schlussendlich auf eine einzige Grußformel, die ich jedoch weidlich nutzte: Terve!, was schlicht „Hallo!“ bedeutet und eigentlich immer geht. Und außerdem spricht praktisch ganz Finnland ein exzellentes Englisch.
Kulinarisch ist Finnland eine große Freude, sofern man es etwas rustikaler mag. Es gibt drei untrügliche Zeichen, dass man in einer finnischen Küche steht: Die große Kaffeekanne hat den prominentesten Platz in der ganzen Küche, es gibt mindestens ein Holzbrett, das wesentlich länger als breit ist, um Fische zu filetieren, und alle Hängeschränke über der Spüle, in denen das Geschirr steht, haben keine geschlossene Bodenbretter, sondern Gitterroste, in die das frisch gespülte, aber noch nasse Geschirr gestellt wird, damit es von selbst abtropfen kann.
Die Finnen müssen das Geschirrabtrocknen hassen.
Oder sie sind einfach pragmatisch, was ich mir gut vorstellen könnte.
Gegessen wird neben allerlei Fisch wie Hecht, den konnte ich nach fast zwei Wochen jeden Tag hintereinander zeitweise nicht mehr sehen, Barsch, Äschen, Forellen und Renken, vor allem Fleisch vom Rentier in allen Variationen: gebraten, getrocknet, geräuchert, tiefgefroren und dann, halb aufgetaut, in kleine Schnipsel geschnitten und in der Pfanne gebraten – eine Art finnische Dönerbox ohne Pommes. Milch, Sahne und vor allem die finnische Butter sind ein Gedicht und mindestens genauso gut wie in Irland. Getrunken wird Wasser aus dem Bach, Kochkaffee und vier verschiedene Stärken Bier, von denen die drei potentesten jahrzehntelang nur auf Bezugsschein zu bekommen waren.
Eintrag aus meinen Reisenotizen (12. August 2008)
„Netzfischen mit Aanti – ein finnisches Frühstück: um 10 Uhr (morgens) das erste Bier. Hannu hat ca. 12 Netze an vier Stellen ausgelegt. Viele recht große Barsche, 3 Renken, 2 Hechte. Heute Abend gibt es finnische Matelote.“
Die Finnen haben insgesamt ein, nennen wir es „sehr spezielles“ Verhältnis zu alkoholischen Getränken.
Um es vorsichtig auszudrücken.
Eine Art Nationalgetränk in diesem Teil der Welt ist „Hoffmanns Likör“, der zu gleichen Teilen – ohne Witz! – aus reinem Alkohol und Äther (!) besteht und sehr glücklich machen muss.
Martins alter Freund, ein Professor der Universität in Helsinki für Genetik, war regelmäßig mit ihm zum Fischen in der Gegend. Offiziell war er im Auftrag der Uni unterwegs, um Gewebeproben von Forellen für ein Forschungsprojekt zu sammeln. Faktisch aber zog er mit Martin und einigen anderen Kumpels zum Fischen los in Naturschutzgebiete, die normalerweise für jeden menschlichen Zutritt tabu sind. Das ist übrigens eine der echten „Macken“ der finnischen Fliegenfischer: ihr erklärtes Ziel ist immer, dort zu fischen, wo noch niemand gefischt hat; und zwar nicht letzten Sommer oder seit fünf Jahren, sondern – noch nie!. Zu diesem Zweck, also der Aufbewahrung der Gewebeproben, hatte der Prof immer einige Liter Alkohol und Äther mit dabei, worauf die Einheimischen natürlich unglaublich scharf waren. Gegeben hat er ihnen jedoch, glaube ich wenigstens, nie etwas, denn er erklärte mir einmal: „Wenn ich den Jungs Alkohol verkaufe, komme ich mit dem erhobenen Zeigefinger davon; für Äther gehe ich in den Knast!“ Der Typ war auf jeden Fall eine ziemlich coole Socke.
Nur werfen konnte er nicht.
Aber auf ihn komme ich gleich noch einmal zurück.
Die Fischerei am Könkämäeno ist etwas ziemlich Einzigartiges, da sich dieses Gewässer, das die Grenze zwischen Ostschweden und Westfinnland darstellt, einst nicht entscheiden konnte, ob es lieber Fluß oder See werden wollte; es ist beides.
Im Schnitt ungefähr 200 Meter breit, wird der Lauf des Stromes in regelmäßigen Abständen durch flache, steinige Stromschnellen unterbrochen, die befischt werden. Dazwischen befinden sich mehrere Hundert Meter lange, sehr ruhige, fast seeartige Abschnitte die sehr tief sind. Sie dienen eigentlich nur dazu, mit dem Boot von Stromschnelle zu Stromschnelle zu fahren, um weiterzufischen zu können. Denn das Gehen am großsteinigen Ufer ist sehr anstrengend. Jede einzelne dieser Stromschnellen hat einen Namen und sie sind, in diesem eintönigen, nur leicht hügeligen Land ohne echte Fixpunkte am Horizont alte Landmarken, an denen sich die Einwohner seit jeher orientiert haben. Sie heißen Kareliänkoski (Karelische Stromschnelle), Lammaskoski (Lammstromschnelle) oder Saunnokoski (Otterstromschelle). Das Ganze erinnerte mich an die Wüste, in der Karawanen von Oase zu Oase ziehen und das menschenfeindliche, leere Land dazwischen soweit wie möglich meiden. So meiden die Angler die ruhigen, tiefen Stellen zwischen den Stromschnellen, während diese, flach und relativ gut bewatbar, dazwischen wie kleine Refugien zum Fischen sind. Wobei „gut bewatbar“ wirklich relativ ist. Denn das Einzige, was ich beim Watfischen noch mehr fürchte, als Steine die sich bewegen, wenn man auf sie tritt, sind große Steine die sich bewegen, wenn man auf sie tritt. Wenn das hundert Meter oder mehr vom Ufer entfernt passiert, kann es einem wirklich angst und bange werden.
Die Äschen stehen meist eng am Rand des sehr schnell fließenden Wassers der Stromschnellen, ganz klassisch hinter größeren Steinen. Oft in nur knietiefem Wasser. Man wirft grundsätzlich mit relativ kurzer Schnur stromab mit einem Winkel von ungefähr 45° querüber und hoch gehaltener Rute. Dabei versucht man immer, die Schnur mit einem deutlichen Bogen stromauf abzulegen. So hat man zwei, drei Sekunden mehr Zeit, bevor die Fliege anfängt zu dreggen. Oft reicht es. Aber das Wasser fließt schnell.
Manche, meist größere Äschen stehen direkt vor den Steinen, was ich aber erst gemerkt habe, als ich eine solche beim Aufnehmen der Fliege aus Versehen gehakt habe. Ich habe sie nach vielleicht drei Minuten im Drill wieder verloren. Angefühlt hat sie sich wie ein aufgespannter Regenschirm, den man unter Wasser durch die scharfe Strömung zieht. Ich schätze, dass sie ziemlich groß war.
Am Rande sei noch bemerkt, dass in diesem Teil der Welt hauptsächlich gefischt wird, um abends etwas zum Essen zu haben. Natürlich haut man nicht jedem Fisch, den man fängt, über den Kopf, doch das Spiel hier heißt grundsätzlich nicht Catch and Release, sondern Catch to Eat.
Wer aber ausschließlich der großen Äschen wegen diese Reise unternimmt, hat es eigentlich nicht verstanden. Denn das Land ist einzigartig und etwas ganz Besonderes. Vor allem das Licht ist gänzlich unwirklich. Auch wenn die Farbpalette eine andere ist, drängt sich der Vergleich zur Wüste erneut auf. Es ist ja eine Art Wüste, eine kalte zwar, aber genauso karg und mitunter lebensfeindlich, je nachdem wie gut man mit dieser Landschaft vertraut ist. Scheint an einem sehr trüben Tag die Sonne durch den Hochnebel, dann taucht sie die ganze Landschaft wie in Mondlicht, das sich im Fluß spiegelt.
Gäbe es Trolle, sie wären wahrscheinlich hier zu Hause.
Einige Tage später brachen wir auf, um eine halbe Tagesreise weiter nordöstlich in ein Naturschutzgebiet nahe der russischen Grenze einzusteigen, das in den letzten 50 Jahren (offiziell) von keiner Menschenseele betreten worden war – der Traum eines jeden echten finnischen Fliegenfischers. Die Jungs munkelten hinter vorgehaltener Hand sogar von einer Art „Kleinem Grenzverkehr“, den russische Schmuggler aufgezogen hatten ‒ mit einem alten demilitarisierten Panzer, den ihr Boss von der Armee „organisiert“ hatte, weil es nicht einmal halbwegs passable Wege gab und damit aber auch keine nennenswerte Grenze mit Kontrollen. Zu verdanken hatten wir die Gelegenheit Jari, unserem Genetik-Professor aus Helsinki, der einen entsprechenden Forschungsauftrag (und mehrere Liter reinen Alkohol) im Gepäck hatte. Er war seinerzeit eine Kapazität auf seinem Gebiet, jedoch noch weit mehr als das:
Gut situiert, hatte er eine sehr gute Bildung genossen. Er war weit gereist, ein totaler Gesundheitsfreak – wie fast alle Finnen, die dafür teilweise auch steinalt werden –, ein ehemaliger Offizier, in seiner Jugend Amateurboxer. Sein Vater war finnischer Champion als Motorrad-Rennfahrer für Straßenrennen, sein Großvater hatte Finnland viele Jahre als Botschafter vertreten. Jari, großgewachsen und mit noch immer ziemlich breiten Schultern, hatte eine sehr ruhige aber nicht unbedingt sanftmütige Art. Ich hatte das Gefühl, hin und wieder für einen kurzen Moment auf seine dunkle Seite zu blicken. Unter dem Strich machte er mir Angst.
Ebenfalls mit an Bord war ein Verwandter von ihm, den alle nur Koivoleinen nannten, was „wie eine Birke“ bedeutet. Der Name passte, denn er war um die zwei Meter groß, hatte Schuhgröße 47 und wog 120 Kilogramm.
Und das alles mit der Sanftmut eines Lammes.
Ein Riesenbaby.
Jari erzählte mir, dass er, „die Birke“, mit seinen mittlerweile 55 Jahren, noch immer unter der Fuchtel seiner 87-jährigen Mutter stand. Er war stets freundlich und zuvorkommend; jemand, der einem buchstäblich das letzte Hemd geben würde ‒ sofern es passte.
Wirklich lustig aber war sein Akzent und er hat mich öfters zum Lachen gebracht, denn er konnte, wie viele Skandinavier, kein „sch“ aussprechen. Stattdessen machte er daraus ein „z“. Und so wurde aus dem „Sänd-witsch“ regelmäßig ein „Sänd-witz“. Es war wirklich amüsant, vor allem aus dem Mund eines solchen Riesen. Aber er lachte sich auch über meine kläglichen Versuche kaputt, seine Sprache zu sprechen, insofern war das okay.
Am Rande des Naturschutzgebietes waren wir mit einer Samenfamilie verabredet, die uns und unsere Ausrüstung mit Allradfahrzeugen in das Gebiet bringen sollten. Die Landschaft hatte sich zwischenzeitlich völlig verändert.
Felsen und Hügel waren verschwunden und wir fuhren stundenlang durch eine sandige Moränenlandschaft, die nur von niedrigen Büschen und Krüppelbäumen unterbrochen war. Anfangs hatte man nicht unbedingt das Gefühl, in der „Wildnis“ unterwegs zu sein, denn die gesamte Landschaft war zerschnitten von 4-Wheeler-Spuren, die wie tiefe Abdrücke von Panzerketten nach einer Gefechtsübung aussahen.
Es sah aus wie eine Mischung aus dem Truppenübungsplatz Heuberg und der afrikanischen Savanne.
Finnische Serengeti.
Ich wartete auf Giraffen, sah aber nur Rentiere; Tausende, von fast weiß bis fast schwarz.
Hatte ich bereits erwähnt, dass all das völlig unwirklich aussah?.
Die Straße zum „Sommerhaus“ der Samenfamilie führte über eine unregelmäßige Sandpiste mit riesigen, einzeln im Gelände verteilten, runden Wackersteinen und, etwas später, über hölzerne Knüppeldämme durch ein größeres Moorgebiet. Beide Begriffe, sowohl “Straße“ wie auch „Haus“, waren übrigens schamlose Übertreibungen. Intern einigten wir uns für die Behausung auf den Terminus „Camp“, und für die Straße auf „Trail“, was auch deutlich abenteuerlicher klang.
Dann änderte sich die Landschaft erneut, die Krüppelgehölze verschwanden endgültig und wir fanden uns in einer flachen Heidelandschaft wieder, nur unterbrochen von flachen Seen und einem, von niedrigen Bäumen gesäumten, Fluß. Die Ufer vieler dieser Seen hatten teilweise sandige Strände, wiederum unterbrochen von großen runden Findlingen aus Granit. Von Weitem sahen die Buchten aus wie Sandbunker auf einem entfernten Golfplatz.
Es gab nur zwei Hinweise auf menschliches Leben: die bleichen Holzstangen der Zelte, die überall im Gelände verteilt, meist an schönen Stellen, standen – die zum Teil immer noch halbnomadisch lebenden Samen bezogen sie im Sommer mit den Häuten der Zelte und lebten eine gewisse Zeit draußen bei ihren Rentierherden – und die blauen Kunststoffstricke, die überall in der Landschaft rumlagen. Diese Schnüre sind das Duct Tape („Panzerband“) Europas und man findet sie genauso bei uns in Nordhessen oder Südfrankreich. Sie sind in der Wildnis unverzichtbar, weil sie billig, leicht, stark, überall erhältlich und extrem haltbar sind. Was aber zum Problem wird, wenn sie achtlos weggeworfen werden. Sie brauchen wahrscheinlich mehrere Hundert Jahre, bis sie sich irgendwann aufgelöst haben – zu Mikroplastik.
Aber dann sind sie wenigstens nicht mehr sichtbar … aus den Augen, aus dem Sinn.
Wir fischten an einem namenlosen Fluß im Großen Nichts. Auffällig war seine nahezu schwarze Farbe. Was aber nicht an der Farbe des Wassers selbst lag, sondern am torfigen Untergrund durch den er floss. Er wirkte irgendwie bedrohlich und schon am zweiten Tag kroch immer mal wieder der Gedanke in mir hoch, ich würde, sollte ich da hineinfallen – was ja immer mal wieder vorkommt ‒ einfach ersaufen. Während meines Militärdienstes hatte ich mich zum Rettungsschwimmer ausbilden lassen und solche Hirngespinste waren mir vorher noch nie in den Sinn gekommen.
Die Wildnis fing an, an meinen Nerven zu nagen; es war gruselig.
Auch die Angelei selbst war in gewisser Weise gruselig.
Anfangs freute ich mich noch über mein tiefes Sachverständnis, auf dem mein unglaublicher Fangerfolg beruhen musste. Dann begeisterte mich mein schieres Glück, so erfolgreich zu sein. Jeder Wurf ein Treffer. Bis ich nach einer Weile merkte, dass die Fische im kurzen Sommer Lapplands einfach derart hungrig waren, dass sie auf alles (alles!) stiegen, was man ihnen hinwarf. Ich hatte eine Äsche abgeschlagen und in ihrem Magen nachgesehen; er war praktisch – leer.
In meiner Verzweiflung verließ ich unser Camp und folgte dem Fluß ein Stück abwärts, doch da bot sich dasselbe Bild. Es war unmöglich, nichts zu fangen!
Als letztes Aufgebot, wenigstens bei den im Schnitt ziemlich großen Äschen auf Ablehnung zu stoßen, band ich an einer schnelle Rausche eine mittelgroße Fully Dressed Lachsfliegen an mein Vorfach (ein Unding!) – die prompt genommen wurde und mir wieder eine Äsche von über 40 Zentimetern Länge bescherte. Es war hoffnungslos und machte wirklich keinen Spaß mehr. An diesen Fluß musste ich einige Tage später wieder denken, als ich eine Weile mit einem Fischadler zusammen im selben See fischte. Er fing, ich nicht. Aber er sorgte für seinen Lebensunterhalt, um nicht hungrig schlafen gehen zu müssen, wohingegen ich im Urlaub war.
Die letzte Nacht in dieser Wildnis verbrachten wir in einer kleinen Jagdhütte, in der es nichts Unnützes gab: Streichhölzer, ein Mückennetz, einen Löffel, ein altes aber noch scharfes Jagdmesser, zwei Pfannen, blaue Kunststoffstricke. Wir übernachteten eng nebeneinander, auf Rentierfellen gebettet auf einer breiten, steinharten Schlafstatt. Zum Essen gab es Rentierfilet mit frischen, selbst gesammelten Pilzen und der Ofen spendete die Nacht über gerade so viel Wärme, dass man nicht fror.
Und er verströmte einen Geruch, dem ich noch nirgendwo vorher auf all meinen Reisen begegnet war.
Wie so vielem in diesem wunderbaren und seltsamen Land.
Der Forellensammler von Tom Jacob ist ab sofort im Shop von Forelle & Äsche Verlag erhältlich.
Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dieses Buch ist eine Sensation.
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KRAUTJUNKER says
Wirklich ein sehr schöner Text. Freue mich schon auf das Buch.
Tankred Rinder says
…und ich mich erst! Bin schon sehr gespannt auf den Anklang