“Geht raus angeln”, möchte ich den 61% pessimistisch gestimmten Österreicher:Innen zurufen, die laut den Ergebnissen einer in der Wiener Tageszeitung Der Standard veröffentlichten Umfrage überwiegend sorgenvoll ins Neue Jahr 2025 gestartet sind. (Dieses Stimmungsbild sollte sich seit gestern für einen erheblichen Teil aus dieser Gruppe schlagartig verbessert haben. /s) Man kann mit Spannung auf die nächste Umfrage dazu Ende dieses Jahres warten – ob der Schuss nicht nach hinten losgehen wird?
Interessant, dass ich während der Recherche nach vergleichbaren Daten für Deutschland und die Schweiz nicht so leicht fündig wurde. Die Sorgen in diesen beiden Ländern sind hauptsächlich finanzieller Natur, wie es scheint. Obwohl die Herausforderungen nicht unähnlich sind zu denen der südlichen Nachbarn. Zugegeben, die Liste an Sorgen ist da wie dort sehr lang.
Denke ich aber an mein eigenes Leben zurück, war dieses ständig geprägt von Krisen irgendwelcher Art die sich mit Phasen der Aufbruchstimmung und Zuversicht abwechselten. Kriegsangst, Sorge um Inflation und Arbeitslosigkeit sind sicherlich kein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Verlustangst ist vermutlich eine etwas jüngere Sorge. Doch wer das Glück hat, ältere Familienmitglieder befragen zu können, wird feststellen, dass diese Sorge unsere Groß- und Urgroßeltern ebenfalls umtrieb, bis hin zum Wegfall jeglicher finanzieller und körperlicher Sicherheit.
Im Grunde genommen könnte ich jetzt eine Reihe an anglerischen Kalendersprüchen loswerden, um sich der positiven Auswirkung des Fliegenfischens auf das persönliche Wohlempfindens bewusst zu werden. Ich finde aber wenig Treffenderes als John Gierach’s Worte:
Man sagt, dass man seine Probleme an einem Forellenbach vergisst, aber das stimmt nicht ganz. Folgendes passiert. Du fängst an zu erkennen, wo deine Probleme in den großen Rahmen der Dinge passen, und plötzlich sind sie nicht mehr so bedeutend.
Eine wissenschaftliche Arbeit der englischen Anglian Ruskin Universität unter der Leitung von Professor Lee Smith untersuchte 2022 die Einflüsse des Angelns auf die geistige und körperliche Gesundheit von 1.752 Personen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft und verglich die Ergebnisse anschließend mit denen von Nicht-Anglern. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass Angeln nicht nur Symptome von Depression lindert, sondern auch soziale Bindung stärkt und bei der Bewältigung von Ängsten und ähnlichen Problemen hilft.
Aus meiner Sicht geht das Fliegenfischen dabei sogar einen Schritt weiter, da es eine Fülle an Möglichkeiten bietet, sich dem entbehrlichen Doom-Scrolling am Handy, einer erheblichen Ursache für den Anstieg von Verzweiflung, Angst und Depression, zu entziehen. Und nicht alle diese Tätigkeiten verlangen den Rückzug ins eigene Kämmerlein, was wiederum das Gefühl der Einsamkeit unter Umständen verstärken kann.
Knoten lernen: Hand aufs Herz! Wer ist noch nie am Blutknoten verzweifelt? Manchmal denke ich, der Pitzenbauer Ring wurde nur aus dem einzigen Grund entworfen, die laut fluchenden Kollegen am Fluss zum Erstummen zu bringen. Für mich ist es aber immer eine große Freude, einem sich langsam zuziehenden Knoten zuzusehen, dessen Schlingen sich nach und nach an die andere anschmiegen. Knoten ist darüberhinaus eine Betätigung, die man unauffällig im Beisein der Familie ausüben kann, wenn die sich über einen gemeinsamen Fernsehabend freut. Die wiederum wird deine Anwesenheit schätzen und froh sein, dass deine Hände nicht reflexartig zum Handy greifen beim ersten Anflug von Langeweile über die dargebotene filmische Qualität.
Ausrüstung pflegen: Schlägt in eine ähnliche Kerbe und kann mühelos im Beisein anderer, sogar während Unterhaltungen durchgeführt werden. Zumindest was die Reinigung von Kleinteilen, Ruten und Rollen betrifft. Führt aber unter Umständen zu Geruchsbelästigung und die Möglichkeit zum Ausweichen ins Arbeitszimmer oder in die Garage sollte gegeben sein. Folgt man den Thesen des Standford University Sozialforschers B.J. Fogg aus seinem Buch Tiny Habits, so führt die Tätigkeit der regelmäßigen Ausrüstungspflege möglicherweise zu weiteren Handlungen, mit ungeahntem Verbesserungspotential in anderen Lebensbereichen. Reinigt man häufig die Ausrüstung, putzt man ggf. auch öfter die eigene Wohnung, oder die Schuhe, oder legt einfach größeren Wert auf gepflegtes Äußeres. Was wiederum zu einem besseren Wohlbefinden in sich selbst und den eigenen vier Wänden sorgt.
Fliegenbinden ist die naheliegendste Betätigung, um sich vom möglichen, vermutlich aber nicht eintreffenden, sozialen Abstieg abzulenken. Da noch immer viele Fliegenfischer einfach nicht die Zeit und Muse finden, sich intensiv damit zu beschäftigen, wird der/die Geübte schnell einen besonderen Rang unter den fliegenfischenden Freunden und Kollegen einnehmen. Ich habe noch keinen guten Fliegenbinder getroffen, der sein Wissen nicht gerne an Bindeabenden und ähnlichen Zusammenkünften weitergibt. Das schmeichelt dem Ego und stärkt den sozialen Stand unter Gleichgesinnten. Dem finanziellen Abstieg beugt es vielleicht nicht vor, da gutes Bindematerial nicht ganz billig ist und Binder und Binderinnen sich auf Messen und in Shops wie Kinder im Spielzeugladen fühlen. Betrete ein Fachgeschäft und du wirst mit Sicherheit mit Bindematerial den Laden verlassen. Die Zufriedenheit über die gelungene Fliege aber, die einem selbst und Anderen Fänge beschert, ist unermesslich.
Ausflüge planen: Nichts lenkt uns mehr von unseren Sorgen ab, als der Wunsch nach einer Reise oder auch nur einem Kurztrip. Mit der Definition eines Ziels erstellen wir unweigerlich einen Plan. Es gilt Hindernisse aus dem Weg zu räumen: Zu wenig Geld, keine Zeit, und all die anderen Erschwernisse die die Realisierung unseres Wunsches auf den Prüfstand stellen. Mit dem Endziel vor Augen – in meinem Fall auf Bachforellen in den Western Lakes auf Tasmanien, Redfish an der texanischen Küste, Striped Bass in Martha’s Vineyard, Yellowfish in Lesotho, um mal die ganz weit entfernten Ziele aufzuzählen – werden mir die Hürden bewusst, die es zu überwinden gibt, um diese Wünsche wahr werden zu lassen.
Es gibt keine Garantie, ob ich diese Ziele je erreichen werden. Mit der beginnenden ‘inneren Reise’ dahin, ermögliche ich mir aber mit Sicherheit Erlebnisse, die ich bislang noch nicht in Erwägung zog. Sei es Bemühungen mehr Geld zu beschaffen oder auf die Seite zu legen, sei es die Familie zu inkludieren, die diese Destinationen aus anderen Gründen spannend finden, sei es ein Netzwerk zu schaffen, dass mir diese jetzt ‘weit entfernt’ erscheinenden Ziele ein Stück näher bringt. Wird mir bei meinen Wünschen und Plänen Phantasterei unterstellt, denke ich an den legendären FC Liverpool Trainer Bill Shankeley der seiner Mannschaft folgendes mitgab:
Greift nach dem Himmel und ihr erreicht die Decke. Greift nach der Decke und ihr bleibt auf dem Boden.
Angelbücher lesen: Das moderne Leben macht es uns nicht leicht, zugegeben. Von allen Seiten wird uns ein erfolgreiches Leben aufgetischt, dass für jeden erreichbar sein muss. Besonders in den sozialen Medien, wo meist nur das Ziel – der gefangene Fisch – präsentiert wird. Der persönliche Einsatz hinter den ‘instagrammable’ Erlebnissen wird ausgeblendet, wobei gerade der am interessantesten ist. Autoren sind hingegen meist viel großzügiger. Sie lassen dich nicht nur an ihren Erfolgen teilhaben, sondern zeigen die Rückschläge und die Misserfolge auf dem Weg dorthin auf. Sie unternehmen viel, um Lesern die Mittel in die Hand zu geben, ebenso erfolgreich zu werden wie sie selbst. Nimmst du gute Bücher zur Hand, wird dir erst klar, was es in der Praxis alles umzusetzen gibt, um an diesen Punkt zu gelangen.
Nicht zuletzt wird es dir deine seelische und körperliche Gesundheit danken. Denn die Handynutzung beim zu Bett gehen steht im Konflikt mit Entspannung, Müdigkeit und gesundem Schlaf. Dass Schlafentzug Nervosität, Depression und Stress erzeugen, wissen nicht nur Mediziner sondern alle Geheimdienste dieser Welt.
Gewässerdienst: Wenigen Terminen fiebere ich so entgegen wie diesem. Kürzlich sagte mir ein guter Freund, er wisse nicht, ob er mich zur EWF 2025 begleiten kann. Er müsse erst den Termin für den Gewässerdienst erfahren. In dem Moment dachte ich mir: “Deine Prioritäten sind richtig gesetzt!”
Im letzten Jahr tauchte ich oberflächlich in den Stoizismus ein. Ich bin ein großer Fan von Ryan Holiday, der mir täglich eine kleine Dosis an antikem Wissen für das moderne Leben aufbereitet. Die wichtigste Übung in der stoischen Philosophie ist die Unterscheidung zwischen dem, was wir ändern können, und dem, was wir nicht ändern können. Worauf wir Einfluss haben und worauf wir keinen Einfluss haben.
Die Hauptaufgabe im Leben besteht einfach darin, die Dinge zu erkennen und zu trennen, damit ich mir klar sagen kann, was Äußerlichkeiten sind, auf die ich keinen Einfluss habe, und was mit den Entscheidungen zu tun hat, die ich tatsächlich unter Kontrolle habe. Wo soll ich also nach Gut und Böse suchen? Nicht bei den unkontrollierbaren Äußerlichkeiten, sondern in mir selbst bei den Entscheidungen, die ich selbst treffe…“ Epiktet 135 n.Chr.
Ich werde andere Menschen schwer dazu anhalten können, ihren Müll nicht unachtsam zu entsorgen. Ich kann aber jedes Stück Plastik und jede weggeworfene Dose aufsammeln, um in einem Umfeld zu angeln, in dem ich mich wohl fühle. Ja, es deprimiert. Nichts zu unternehmen ist aber auch keine Lösung. Außer, man trifft auf einen langstieligen Gegenstand im Wasser, der wie eine Sektflasche wirkt. Den zog mein Pächterkollege ohne Bedenken aus dem Wasser. Beim Eintreffen des Kampfmittelräumdienstes erwies sich das Teil als Phosphorhandgranate aus dem 2. Weltkrieg. Wir empfehlen Vorsicht und Zurückhaltung.
Den Schaden an unserer Natur werde ich nicht eigenhändig beseitigen können, den voranschreitenden Klimawandel ebenso wenig. Ich kann aber alles in meiner Macht stehende unternehmen, um andere dafür zu sensibilisieren. Dort wo es möglich ist, kann ich meinen Konsum und die damit einhergehende Müllerzeugung und Umweltbelastung beschränken. Ich kann mit einfachen Mitteln für ein besseres Habitat von Forellen & Äschen sorgen, anstatt darauf zu warten, dass Unternehmen oder der Staat es tun. Nicht zuletzt werde ich dadurch andere treffen, denen diese Anliegen genau so wichtig sind und so mein soziales Umfeld erweitern.
Ich finde es ebenso ungerecht, dass diese Aufgabe auf das Individuum, das schwächste Glied in der kausalen Kette abgewälzt wird. An der Seitenlinie zu stehen und dabei zuzusehen, wie meine geliebten Bäche und Flüsse zugemüllt und beschädigt werden, wird mich aber nicht besser fühlen lassen.
“Für ihn kommen alle guten Dinge – Forellen ebenso wie ewige Erlösung – aus der Gnade, und Gnade kommt aus der Kunst, und Kunst kommt nicht von alleine.” Norman Maclean
Fliegenwerfen: Bis zur Veröffentlichung von Line Poetry im letzten Jahr, hätte ich es nicht für möglich gehalten, das werferische Können in täglichen zehnminütigen Übungen in der Behaglichkeit des eigenen Zuhauses verbessern zu können. Wie schwer es aber ist, zehn Minuten – verdammte zehn Minuten – in den Alltag zu integrieren, hatte ich genauso wenig für möglich gehalten. Ich bin kläglich gescheitert!
Es gelang mir aber, mich quasi die komplette letzte Saison nur mit Spey-Würfen an meinem Fluss zu beschäftigen. Das Fische fangen war nachrangig. Meine Kollegen der Pächtergemeinschaft sind viel zu geerdet, erfahren und trocken in ihrem Humor, um mir den Honig ums Maul zu schmieren. Doch siehe da, sie kamen gegen Ende der Saison nicht um die Anmerkung hin, was ich mit der Einhandrute nun praktiziere, sehe aus, als wisse ich was ich tue. So fühlte es sich auch an. Besonders in den gelegentlichen Momenten, als ich zufrieden war mit dem Wurf der mir gelang und just in dem Augenblick als meine Freude darüber am größten war, sich meine Schnur entschlossen von mir fort bewegte. In Glücksmomenten wie diesen bleibt kein Platz für Sorgen um Unzulänglichkeiten.
Zu meinen Vorsätzen des letzten Jahres kommen keine neuen hinzu, anders als bei den Zielen die neu gesteckt wurden. Die zarten Pflänzchen wollen weiter gepflegt werden. Erinnern werde ich mich an regelmäßige Pausen während der Arbeit, während denen die zehnminütigen Wurfbewegungsübungen am Schreibtisch so selbstverständlich werden sollen, wie früher der Griff zur Zigarette. Weiterhin werde ich so viel Zeit wie möglich draußen am Fluss verbringen. Meine körperliche und geistige Gesundheit wird es mir danken. Frohes Neues Jahr 2025
“Die Götter ziehen die Stunden, die der Mensch mit Fischen verbringt, nicht von der ihm zustehenden Zeit ab.” Herbert Hoover
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Oliver von Richter says
Danke Tankred, einer Deiner besten Beiträge und ein guter Einstieg ins Jahr!
Wenn es jetzt noch einen Flyshop gäbe der mein gesamtes Bindematerial vorrätig hat…. Aber wie Norman Maclean so treffend formuliert „Gnade kommt aus der Kunst und Kunst kommt nicht von alleine“
Dir und dem Verlag ein erfolgreiches und fischreiches Jahr 2025
Tankred Rinder says
Vielen Dank Oliver, das höre ich sehr gerne! Würde Maclean noch immer leben, würde er Dir ausrichten: „Less is more“. Bin sicher es liegt ausreichend Material bei Dir rum.
Happy Tying, happy New Year!
LG T